Wo schauen Sie hin? – Ein Blick auf unseren Fokus und was daraus werden kann.
Neulich im Führungscoaching.
Ich frage die Führungskraft: „Wann fühlen Sie sich im Flow?“
Sie antwortet: „Im Flow? Ich habe so viele Aufgaben, bereits am Montagmorgen prasselt alles auf mich ein. Ich versuche, den Laden am Laufen zu halten. Das ist unfassbar schwer.“
Ich frage erneut: „Und bei welchen Tätigkeiten, während Sie all das tun, sind Sie mit sich im Flow? Was fällt Ihnen leicht?“
Die Führungskraft antwortet: „Das ist so schwer zu beantworten. Ich sehe diese ganzen Probleme, die gelöst werden müssen. Um ehrlich zu sein, ist mein Alltag für mich Krieg.“
Ich kenne diese Gedanken gut – den Fokus auf die Probleme, auf die Schwierigkeiten, meine eigenen Wachstumspunkte. Je gestresster ich mich fühle, um so besser bin ich darin, noch mehr um diese Dinge zu kreisen.
Nur weiß ich inzwischen: Diese Denkweisen machen meinen Stress größer und meine Entscheidungen dadurch qualitativ nicht besser.
All diese negativ bewerteten Dinge, auf die wir zu achten haben, ziehen uns magisch an.
Stellen Sie sich vor, Sie haben ein wichtiges Meeting vor sich, bei dem Sie vor vielen Leuten sprechen werden. Auf Ihren Beitrag wird es ankommen. Sie haben sich entsprechend vorbereitet. Ihre Rede sitzt. Sie haben sich ein Outfit zusammengestellt, das Ihnen Selbstbewusstsein verleihen soll und mit dem Sie sich wohlfühlen. Und kurz bevor Sie dort ganz nach vorn vor all diese Leute treten sollen, entdecken Sie, dass auf Ihrem Oberteil in zentraler Höhe ein großer, sichtbarer Kaffeefleck sitzt. Er ist da. Für den Moment unveränderbar. Alle werden ihn vermutlich sehen. Was werden die Menschen im Publikum wohl über Sie denken? Ihre ganzen Vorbereitungen sind umsonst. Sie katastrophisieren. Am liebsten würden Sie abbrechen. Denn mit diesem Fleck brauchen Sie gar nicht auf die Bühne zu treten. Man sieht es wieder – Sie können nicht einmal vernünftig Kaffee trinken. Der Kollege Huber wird sich vermutlich genau das denken, wenn er Sie so sieht. Und die Chefin? Die ist so anspruchsvoll. Der würde so etwas nie passieren. Sie wird vermutlich auch gleich die kleinen Schwachstellen in Ihrer Präsentation entdecken. Ja, das Beste wird sein – Sie sagen ab, gesundheitliche Probleme … .
Nun, während Sie all das so lesen, denken Sie vermutlich: Die Führungskraft soll sich ihre starken Seiten bewusst machen, vielleicht zum Einstieg in die Rede einen kleinen Scherz über den Kaffeefleck machen. Das wirkt souverän.
Ja, wenn wir in Distanz über andere Personen nachdenken, fühlen wir uns kompetent und steigern unser Selbstwertempfinden, indem wir der fiktiven Führungskraft im Geiste wirksame Empfehlungen geben.
Doch was passiert, wenn wir selbst in diesen Situationen stecken, in denen wir uns gestresst fühlen, mit unseren eigenen „Kaffeeflecken des Alltags“ konfrontiert werden, wenn immer wieder all das Unerledigte, Problematische auf unserem inneren Bildschirm auftaucht? Wenn wir in unseren Beziehungen nicht darauf achten, wann wir uns verstanden und wohlfühlen, sondern uns gut merken, wann wir uns ignoriert oder verletzt gefühlt haben?
Es ist völlig normal.
Es entspricht der Funktionsweise „Mensch“, die negativen Aspekte, die Sorgen, Krisen und Probleme eher wahrzunehmen als die schönen, bereichernden und somit vollständigen Aspekte unserer Umwelt. All die „negativen“ Dinge nimmt unser Gehirn eher als relevant wahr und speichert sie auch so ab, dass sie leichter wieder abgerufen werden können. Somit erinnern wir sie auch schneller. Aus evolutionswissenschaftlicher Perspektive ist dieser Negativitätsbias gut nachvollziehbar – wir Menschen brauchen diese Informationen, um uns zukünftig vor Gefahren zu schützen.
Es ist auch völlig normal, dass wir in Stresssituationen dazu neigen, die Dinge noch schwärzer zu malen, als sie uns ohnehin schon erscheinen. Dieses Katastrophisieren ist ein ganz typisches Denkmuster, in das das gestresste Gehirn verfällt, weil es gerade so schön mit Stressgedanken in Fahrt ist.
Für uns Menschen sind die Gedanken und Gefühle in solchen Momenten, wie sie die beschriebene Führungskraft am Bühnenrand erlebt, schlimm. Denn sie wirken wahr. Da wir unreflektiert all das, was wir empfinden, für wahr halten, kennt auch diese Führungskraft momentan nur eine Möglichkeit: „Ich bin unfähig. Das kann nichts werden.“
Unreflektiert, in Unkenntnis der menschlichen Funktionsweise wird sie all das denken.
Was sich ändert, wenn sich der Fokus ändert.
Die Wahrscheinlichkeit, sich der momentan verzerrten Sichtweise bewusst zu werden, steigt mit der Kenntnis der Psychologie des Menschen und mit der Übung, sich in stresshaften Situationen ins Umdenken zu leiten – weg von der Priorität des Kaffeeflecks hin zu:
Was ist mir jetzt wichtig?
Was kann ich gut?
Was spricht dafür, dass ich jetzt auf diese Bühne steige und meine Vorbereitungen präsentiere?
Was ist jetzt tatsächlich wegen meines Kaffeeflecks zu veranlassen?
Die letzte Frage ist ebenfalls wichtig. Denn natürlich möchten wir – wenn es etwas zu tun gibt – auch Lösungen entwickeln.
Der Negativitätsbias zeigt sich überall. Wenn ich Führungskräfte frage: „Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an Teammitglied XY denken?“, bekomme ich häufig Antworten wie: „Er ist unfassbar langsam, das regt mich so auf.“ Oder: „Sie ist schusselig. Ich muss alles sehr gründlich prüfen, was von ihr kommt.“ Und ja, Sie haben sicherlich völlig Recht mit diesen Aspekten. Neben diesen gibt es aber ganz bestimmt noch viele weitere Verhaltensweisen, die positiv sind und - wenn auch unauffällig - zum Gelingen des Ergebnisses beitragen. Nur sehen wir sie nicht oder bewerten sie als weniger relevant für unser Führungshandeln. Und darin liegt oft eine fehlerhafte Herangehensweise.
In meinen Coachings und Seminaren trainiere ich mit den Teilnehmenden, den Blick vom Problem erst einmal auf das wirklich Problematische zu lenken, um dann die Ressourcen einer Person und Situation zu erarbeiten und erst danach die Lösung zu entwickeln.
Und Sie?
Was würde passieren, wenn Sie trainieren, die „weniger relevanten“ unterstützenden Verhaltensweisen in den Fokus zu rücken und die negativen, störenden Verhaltensweisen in ihrem Lichte zu betrachten – und nicht anders herum?
Wie verändern sich Ihr Fokus und in der Folge Ihre Entscheidungen?
Wie oder was werden Sie Ihren Mitmenschen kommunizieren?
Welche Auswirkungen wird all dies auf die Sache haben?
Wie werden Sie sich fühlen, wenn Sie dies mehr und mehr umsetzen und so Ihre eigene Wahrheit verändern?
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Ausprobieren. Genießen Sie das Üben. Freuen Sie sich über Ihre Erfolge. Nehmen Sie es gelassen hin, wenn es mal nicht klappt und üben Sie weiter, wenn Sie möchten 🙂.
Alles Gute
Ihre Dörthe Dehe