Endlich Wochenende. Ich bin so urlaubsreif. Ich bin fix und fertig. Ich brauche unbedingt Ruhe!
Auf Kommando abzuschalten, funktioniert nicht. Wenn unser Gehirn erst einmal auf Hochtouren läuft, weil wir rund um die Uhr arbeiten, grübeln, diskutieren und online sind, sind die Erfolgsaussichten für schnelles Erholen geringer, als man denkt. Was kann helfen?
Viele Menschen haben bereits Phasen erlebt oder stecken mittendrin, in denen sie das Gefühl haben, nicht mehr abschalten zu können. Sie fühlen sich „aufgespult“ und angespannt. Die Gedanken lassen sich nicht abschalten – häufig nachts, wenn der dringend benötigte Schlaf gesucht wird. Es fühlt sich an wie ein Teufelskreis. Je weniger Ruhe und Schlaf, um so schlechter das Befinden am Tag und um so höher das Stresserleben.
Warum können wir – wenn wir doch gerade etwas Zeit haben - nicht einfach die Seele baumeln lassen und uns erholen? Wir brauchen es doch so dringend.
Elektroschocks statt Ruhe
Wenn plötzlich Ruhe herrscht und wir endlich nichts zu tun hätten, wird es häufig erst richtig schwierig. Die plötzliche Ruhe wird als Spannungszustand erlebt. Gott sei Dank haben wir noch das Handy, um uns zu beschäftigen. Der Sozialpsychologe Timothy Wilson von der University of Virginia hat beobachtet, dass es seine Versuchspersonen kaum ertragen konnten, in einem kurzen Zeitraum von 6 bis 15 Minuten still in einem Raum zu sitzen und auf die eigenen Gedanken zu achten. Stattdessen gaben sie sich teilweise sogar lieber Elektroschocks:
Versuchspersonen (Studierende, Rentnerinnen und Rentner), die vorher alle Habseligkeiten einschließlich ihrer Handys abgeben mussten, wurden aufgefordert, sich mit den eigenen Gedanken zu beschäftigen und dabei auf einem Stuhl sitzen zu bleiben. Für diese Aufgabe erhielten sie etwas Geld. Man sollte meinen, dass dies eine schöne und leichte Aufgabe sei. Nach den Ergebnissen von Wilsons Experimenten war es für die Teilnehmer aber eher eine Qual. "Wir haben gesehen, dass es die meisten Menschen nicht genießen, 'einfach nur zu denken', und es klar vorziehen, etwas anderes zu tun zu haben", resümierte Wilson[1]. 49 Prozent der Versuchspersonen fanden es unangenehm, lediglich still dazusitzen und frei zu denken. 58 Prozent berichteten Konzentrationsschwierigkeiten und 89 Prozent gaben an, dass ihre Gedanken umherwanderten und nicht zu kontrollieren waren.
In einer Studie seiner Versuchsreihe von insgesamt 11 Experimenten gab das Forscherteam den Versuchsteilnehmenden daher eine Möglichkeit zu handeln – sie konnten sich selbst per Knopfdruck Elektroschocks verpassen. Das Ergebnis verblüffte auch die Forscher: "Offenbar war es so unangenehm, einfach für 15 Minuten mit seinen eigenen Gedanken allein zu sein, dass viele Teilnehmer den Drang verspürten, sich selbst Elektroschocks zu verabreichen", sagt Wilson.
Insgesamt 67 Prozent der männlichen und 25 Prozent der weiblichen Versuchspersonen, die in einer vorherigen Befragung noch erklärt hatten, lieber Geld zu bezahlen, als sich freiwillig Elektroschocks verpassen zu lassen, griffen während des 15-minütigen Experiments mindestens einmal zu der Möglichkeit, sich selbst einen Elektroschock zu verpassen. Spitzenreiter war ein männlicher Versuchsteilnehmer, der sich ganze 190 Elektroschocks verabreicht hatte.
Offensichtlich fiel es den Teilnehmenden schwer, die Ruhe auszuhalten. Das „Einfach-nur-Denken“ schien ihnen unerträglich zu sein.
Unser Gehirn ist auch in Ruhephasen hochaktiv
Auch im Ruhezustand – ja sogar im tiefsten Schlaf - ist unser Gehirn hochaktiv. Es lässt sich nicht einfach in den Feierabend schicken. Die Muster der Aktivierung im Resting State (Ruhemodus) ähneln denen im Task State (Aufgabenmodus). Die Aktivität unseres Gehirns unterscheidet also grundsätzlich nicht zwischen Arbeit und Freizeit. Es ist immer irgendetwas los in unserem Oberstübchen. Auch unsere Kultur ist da nicht hilfreich. Da wir Menschen heute gewöhnt sind, ständig etwas zu wollen, irgendein Bedürfnis zu befriedigen, ist es schwer, in Pausenzeiten einen Gang zurückzuschalten. Unser Gehirn muss das erst wieder üben.
Was tut unser Gehirn also, wenn es nichts Gerichtetes zu tun gibt?
Wenn man Versuchspersonen die Aufgabe „Denken Sie an nichts Bestimmtes” gibt, findet sich mittels funktioneller Magnetresonanztomographie das sogenannte Resting State Network (Uddin, Kelly, Biswal, Castellanos & Milham, 2009). Es ist im wachen Ruhezustand aktiviert.
Mit Tagträumen zur Ruhe kommen
Aus Sicht der Neuropsychologie können wir zur Ruhe kommen, wenn wir das Wollen sein lassen. Dafür müssen wir uns vorübergehend von unseren Zielen lösen. Erst dann können ungerichtete Gedanken kommen und gehen und das Stressniveau sinkt.
Kennen Sie dieses wunderbare Gedicht von Dorothee Sölle:
Wenn ich ganz still bin
kann ich von meinem Bett aus
das Meer rauschen hören
es genügt aber nicht ganz still zu sein
ich muss auch meine Gedanken vom Land abziehen
Es genügt nicht die Gedanken vom Festland abzuziehen
ich muss auch das Atmen dem Meer anpassen
weil ich beim Einatmen weniger höre
Es genügt nicht den Atem dem Meer anzupassen
ich muss auch Händen und Füßen die Ungeduld nehmen
Es genügt nicht Hände und Füße zu besänftigen
ich muss auch die Bilder von mir weggeben
Es genügt nicht die Bilder wegzugeben
ich muss auch das Müssen lassen
Es genügt nicht das Müssen zu lassen
solange ich das Ich nicht verlasse
Es genügt nicht das Ich zu lassen
ich lerne das Fallen
Es genügt nicht zu fallen
aber während ich falle
und mir entsinke
höre ich auf
das Meer zu suchen
weil das Meer nun
von der Küste heraufgekommen
und in mein Zimmer getreten
um mich ist
Wenn ich ganz still bin.“
Tagträumende können das. Das Müssen lassen, das Wollen lassen. Im Tagträumen nehmen wir uns mentale Auszeiten. Nach den Forschungsbefunden des englischen Psychologen Jonathan Smallwood verbringen wir bis zu 20 Prozent unserer Zeit mit Tagträumerei. Während wir uns mit etwas beschäftigen, wandern der Blick und die Gedanken in die Ferne. Die Gedanken kommen wie aus dem Nichts ins Bewusstsein, wie die Träume der Nacht. Wie in der Nacht suchen uns auch im Laufe eines Tages etwa alle 90 Minuten besonders lebhafte Tagträume auf. Dann wandert das Bewusstsein weg von der Außenwelt und es kommen Gedanken und Erinnerungen auf, die mit dem Alltagsgeschäft nichts zu tun haben. Dabei können natürlich auch solche Gedanken auftreten, denen wir gerne aus dem Weg gehen. "Der Inhalt der Tagträume bestimmt, ob sie dem Wohlbefinden eines Menschen nutzen oder nicht", sagt Smallwood[2], "wir können selbst entscheiden, wie wir diese Ressource nutzen."
Tagträumende sind also einfach da und dösen, während ihre Gedanken entspannt umher schweifen. Dafür brauchen sie natürlich Zeit. Auch wenn die heutige Gesellschaft eher rastlose, sichtbar fleißige Menschen belohnt, brauchen Menschen Pausen, um tagträumen, dösen zu können und sich dabei zu regenerieren. Im Einklang mit den Befunden der Chronobiologie, wonach der menschliche Organismus Aktivitätszyklen von etwa 90 Minuten folgt, dürfen wir alle 90 Minuten eine kleine Minipause machen und nichts tun. Das kann am Anfang schwer fallen, wie die geschilderten Untersuchungen von Wilson zeigen. Daher fangen Sie am Besten mit echten Minipausen von 1 bis 3 Minuten an und steigern sich dann nach und nach. Probieren Sie es aus. Das Unterbrechen von Willenshandlungen und Bedürfnisbefriedigung führt zu positiver Ruhe, in der wir Kraft sammeln für alles, was kommen mag.
Wenn Tagträumen schwer fällt
Wenn Sie feststellen, dass die im Tagträumen auftauchenden Gedanken viel mit Ihrem Alltag zu tun haben, können Sie ganz beruhigt sein, denn das ist ganz normal. Anscheinend verbleibt das im Tagträumen ungeübte Gehirn auch in der Ruhe zunächst oft in alten Schleifen (Konishi, McLaren, Engen & Smallwood, 2015). Was also tun? Die Forschung legt nahe, dass es sich lohnt, das Gehirn mit neuen Gewohnheiten zu konfrontieren, z.B. mit dem Erlernen eines Musikinstruments oder mit neuen regelmäßigen Sportarten. Das Erlernen einer neuen Sportart oder eines Musikinstruments fordert neuronale Netzwerke neu, was sich nach einem kontinuierlichen Übungszeitraum von etwa 8 Wochen förderlich auf die Formation des Resting State Netzwerks auswirken kann (Amad et al., 2016). Ebenso können explizite Entspannungstechniken (z.B. autogenes Training, progressive Muskelrelaxation PMR, Achtsamkeitsübungen), in denen das Aktivieren gezielter Schaltkreise während der Ruhe trainiert wird, positiv auf das Erlernen von Ruhezuständen wirken.
Ein ruhiger Körper beruhigt den Geist
Die Wirksamkeit zum Teil jahrtausendealter Verfahren, wie Yoga und Meditation, ist inzwischen ebenso wie die neuerer Methoden (z.B. autogenes Training, PMR) wissenschaftlich belegt. Hier zeigt sich, dass mit einer regelmäßigen Praxis, mit intensiver Übung der gesamte Organismus Entspannung erfährt und sich positivere Gedanken einstellen. Unser Körper sucht wie alle Organismen nach Hömöostase, nach einem inneren Kontinuum. Das bedeutet, dass wir Phasen von Anspannung solche von Entspannung folgen lassen müssen, um uns dauerhaft wohlzufühlen. Bauen Sie also ab jetzt in Ihren Alltag regelmäßige Entspannungsphasen ein, in denen Sie tagträumen, Sport treiben, musizieren, Entspannungstechniken praktizieren. Das ist ein Muss! Ganz besonders für diejenigen, die jetzt aufstöhnen und sich fragen, wann sie das jetzt noch alles unterbringen sollen.
Wer Ruhe regelmäßig trainiert, kann in schwierigen Alltagssituationen gezielter Stress abbauen und regt sich gar nicht mehr so auf. Angst wird gedämpft, positivere Gedanken setzen sich eher durch.
Ruheprophylaxe betreiben
All das setzt voraus, dass wir unserem Körper und unserem Geist Ruhephasen zubilligen – ebenso wie unserem Umfeld übrigens. Das bedeutet, dass wir anerkennen, keine Maschine zu sein, sondern ein menschliches Wesen, das gut belastbar ist, dafür aber regelmäßige Phasen der Regeneration benötigt. Eine gute Ruheprophylaxe sieht in unserem Alltag also regelmäßige Minipausen vor, in denen wir nichts tun außer tagträumen und die Gedanken aushalten, die dann so auftauchen (Sie werden sehen, es wird immer besser!), es bedeutet sich regelmäßig zu bewegen, und zwar im Einklang mit der Natur. Auch für Stadtmenschen wie mich heißt das: ab nach draußen ins Tageslicht und jeden Tag ein paar Schritte gehen.
Zu guter Letzt bedeutet eine gute Ruheprophylaxe auch Regelmäßigkeit – im Üben und im Tagesablauf. Feste Strukturen, die uns so gut wie möglich entsprechen, tun uns gut. Sie freuen unsere innere Uhr, die uns im Einklang mit unseren Ruhephasen hilft, nach einem anregenden Tag in einen erholsamen Schlaf zu fallen.
Ich wünsche Ihnen anregende Tage und entspannende Ruhe!
Literaturverzeichnis:
Amad, A., Seidman, J., Draper, S. B., Bruchhage, M. M., Lowry, R. G., Wheeler, J., Robertson, A., Williams, S. C. & Smith, M. S. (2016). Motor learning induces plasticity in the resting brain - Drumming up a connection. Cerebral Cortex, bhw048.
Baird, B., Smallwood, J. & Schooler, J. W. (2011). Back to the future: Autobiographical planning and the functionality of mind-wandering. Conscious & Cognition, 20, 1604-1611.
Biswal, B. B., Van Kylen, J. & Hyde, J. S. (1997). Simultaneous assessment of flow and BOLD signals in resting- state functional connectivity maps. NMR Biomed, 10, 165-170.
Biswal, B. B. (2012). Resting state fMRI: A personal history. Neuroimage, 62, 938-944.
Konishi, M., McLaren, D. G., Engen, H. & Smallwood, J. (2015). Shaped by the past: The default mode network supports cognition that is independent of immediate perceptual input. PLOS ONE, 10, e0132209.
Long, X., Goltz, D., Margulies, D. S., Nierhaus, T. & Villringer, A. (2014). Functional connectivity-based parcellation of the human sensorimotor cortex. European Journal of Neuroscience, 39, 1332-1342.
Northoff, G. (2011). Neuropsychoanalysis in practice. Brain, self, and objects. Oxford, UK: University Press.
Northoff, G. (2016). Spatiotemporal psychopathology I: No rest for the brain‘s resting state activity in depression? Spatiotemporal psychopathology of depressive symptoms. Journal of Affective Disorders, 190, 854-866.
Panksepp, J. & Northoff, G. (2009). The trans-species core SELF: the emergence of active cultural and neuro-ecological agents through self-related processing within subcortical-cortical midline networks. Consciousness & Cognition, 18, 193-215.
Timothy D. Wilson (University of Virginia), David A. Reinhard, Erin C. Westgate, Daniel T. Gilbert (Harvard University), Nicole Ellerbeck, Cheryl Hahn, Casey L. Brown & Adi Shaked (2014). Just think: The challenges of the disengaged mind [Abstract]. Science, 345, 75-77.
Uddin, Kelly, Biswal, Castellanos & Milham, 2009). Functional Connectivity of Default Mode Network Components: Correlation, Anticorrelation, and Causality. February 2009. Human Brain Mapping 30(2):625-37. DOI: 10.1002/hbm.20531.
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[1] https://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/02/psychologie-innere-ruhe-bewusstsein-tagtraeume-hirnforschung
[2] https://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/02/psychologie-innere-ruhe-bewusstsein-tagtraeume-hirnforschung/seite-2?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com